Erfahrungsbericht: Ein Jahr Work and Travel in Neuseeland
Kapitel 6: Ein Job auf Teufel komm raus
Fast drei Monate später, erholt und sonnengebräunt, checkte ich wieder im Brown Kiwi ein. Ein weiteres Mal befand ich mich in der Situation, fast kein Geld mehr zu haben. Ich hatte unterwegs schon von Leuten gehört, die noch $20 in der Tasche hatten und jeden Job angenommen hatten, der ihnen über den Weg gelaufen war, weil sie nicht auf der Parkbank übernachten wollten – zum Beispiel das Abpacken von Karotten zu einem Hungerlohn. Ich hatte auch schon erlebt, wie Menschen aus dem Hostel geflogen waren, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Ganz so schlimm war es bei mir noch nicht und schließlich hätte ich immer noch meinen Flug ändern und nach Hause fliegen können. Aber ich wollte mich noch mit Freunden aus Australien treffen, mit ihnen einen kleinen Roadtrip machen und später nach Korea reisen. Ich brauchte also Geld, dringend.
Und wieder auf der Suche nach einem Job in Auckland
Mein erster Weg führte zu meinen alten Freunden, dem Brown-Kiwi-Management.
„Braucht ihr vielleicht noch einen, der das Housekeeping macht?“ fragte ich hoffnungsvoll.
„Oh Johanna, hättest du vor zwei Tagen was gesagt, als du angerufen hast – dann hättest du den Job bekommen. Aber jetzt haben wir ihn schon dieser Amerikanerin gegeben.“
Das war dumm gelaufen. Ich ließ sie aber wissen, dass ich auf jeden Fall einspringen würde, wenn sie mal jemanden brauchten. Mein nächster Weg führte zur Pinnwand, an der einige Jobs in Cafés und Restaurants ausgeschrieben waren. Ich schwang mich auf mein Fahrrad, das während meines Australien-Aufenthalts treu auf mich gewartet hatte und machte meine Runde. Das erste Café in der Jervois Rd, gleich um die Ecke vom Brown Kiwi, klang ganz vielversprechend. Man sagte mir, ich sollte doch nach drei Uhr noch einmal wieder kommen, dann hätte man mehr Zeit – dann sei es nämlich nicht mehr so voll. Gut, ich machte mich also auf den Weg zu den anderen Cafés, die alle in der Ponsonby Rd waren. Dort hatte ich allerdings weniger Glück.
„Tut uns leid, die Stelle ist schon weg.“
Der Standardsatz eben.
Um drei Uhr ging ich zurück in die Jervois Rd und stellte mich erneut vor. Ja, alles klar, meinte Dave und notierte sich meine Nummer. Er wollte sich melden, sobald er die anderen Bewerber gesehen hatte. Ich war zuversichtlich. Dass sich Dave allerdings nie wieder bei mir gemeldet hat und total unfreundlich zu mir war, als ich ihn wieder im Café aufsuchte, war nicht korrekt
Ich nahm mir wieder die Zeitung vor und ging die Stellenanzeigen durch. Alles, was nach Café, Restaurant oder Küche klang, notierte ich mir und rief an. Es war überall dasselbe: Gestresste Menschen, die sich ein paar Dinge über mich notierten und mir versprachen, auf mich zurückzukommen. Ich hatte aber einfach keine Zeit für so etwas.
Ich erzählte jedem im Hostel, das ich einen Job brauchte – einfach nur, damit es jeder wusste. Ich schrieb einen Lebenslauf, druckte ihn mehrfach aus, um damit bewaffnet durch die Stadt zu ziehen und ihn in verschiedenen Geschäften und Cafés zu verteilen. Dann ging ich zu den Kinos am Broadway und in der Queen St. Dort bekam ich immerhin ein Bewerbungsformular, das ich auch gleich ausfüllte und wieder abgab. Trotzdem ging mir alles zu langsam. Am Abend hakte ich noch einmal nach, wie es mit dem Putzen im Brown Kiwi aussah. Ich hatte Glück und konnte wenigstens zwei Tage später einmal ein wenig Geld verdienen.
Ein kleiner Job
Am nächsten Tag (schon um sechs Uhr auf den Beinen, weil ich nicht schlafen konnte) ereilte mich der nächste Glücksfall. David aus Belgien schlich ganz verschlafen durch die Küche und sah mich erstaunt an.
„Warum bist du denn schon wach?“
„Konnte nicht schlafen…“
„Hast du Lust heute zu arbeiten?“ fragte er müde.
Ich war ganz verdutzt.
„Wo denn?“
„Auf einem Boot, das renovieren wir, neu streichen und so, da muss aber erst die alte Farbe noch abgeschliffen werden. Der Typ, der gestern mit mir da war, hat heute keine Zeit mehr, deshalb könntest du ja mit.“
„Geht das denn in Ordnung? Ich meine, kann ich da einfach so auftauchen?“
„Ja klar, warum denn nicht?“
„Ok, klar, ich komme mit,“ willigte ich noch etwas zweifelnd ein.
Wir liefen hinunter zum Viaduct Harbour und gingen in eine der Hallen, die noch von dem America’s Cup vor fast einem Jahr übrig geblieben war.
„Er ist noch nicht da,“ murmelte David. Wir setzten uns ans Wasser und warteten eine Stunde auf Ian. Schließlich kam Ian und war sichtlich überrascht, mich zu sehen. Auf dem Zettel, den er im Brown Kiwi aufgehängt hatte, stand schließlich, er bräuchte zwei starke Männer für die Arbeit am Boot. Nun stand eben ich da, ein Mann war ich wahrlich nicht und stark, na ja, das bisschen Schleifen auf dem kleinen Segelbötchen konnte ja nicht so schwer sein. Wenigstens sagte er nichts und zeigte mir einfach, was zu tun war. Ich sollte von Hand die Holzverkleidung im Inneren des Bootes abschmirgeln. Das tat ich dann auch mit Mundschutz, aber leider ohne Schutzbrille. Nach acht Stunden in dem engen Bootsinneren hatte ich absolut keine Lust mehr. Ich fühlte mich eingeengt und meine Augen schmerzten von dem ganzen Staub. $120 zahlte mir Ian bar auf die Hand und fragte mich, ob ich am nächsten Tag wieder kommen wollte. Das Geld lockte, doch die Augen schmerzten zu sehr und der Gedanke an einen weiteren Arbeitstag in dem engen Boot schreckte mich ab. Ich lehnte dankend ab und erklärte, dass ich am nächsten Tag schon einen anderen Job hätte. Schmutzig und erschöpft lief ich mit David nach Hause und war froh, dass ich am nächsten Tag nur im Brown Kiwi putzen musste, auch wenn es dafür etwas weniger Geld gab – aber besser als gar nichts und immerhin bekam man davon keine Augenschmerzen.
Endlich ein Vorstellungsgespräch
Beim Putzen rief dann Byron vom Sky City Cinema in der Queen St an und lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Das war gut, denn ich wusste, dass ich den Job kriegen würde. Schließlich hatte ich schon in Deutschland zwei Jahre lang in einem Kino gearbeitet.
Ich suchte mir aus meinem mageren Fundus einige saubere Kleidungsstücke heraus und zog sie an. Ein guter erster Eindruck war das Wichtigste, dachte ich mir. Überpünktlich und ein bisschen nervös meldete ich mich an der Theke und erklärte, dass ich Byron sprechen wollte. Etwas verloren ließen sie mich erst einmal in dem großen Foyer warten, bis endlich ein riesiger Maori kam, um mich abzuholen.
„Hi, ich bin Byron,“ sagte er.
Ich folgte ihm in eine Art Konferenzraum wo wir an einem großen Tisch Platz nahmen. Er wolle mir ein paar Fragen stellen, erklärte er mir. Ok, willigte ich gespannt und freundlich lächelnd ein. Er zog ein Blatt Papier heraus, auf dem offensichtlich die Fragen standen, und dann las er eine nach der anderen vor. Ich muss gestehen, ich hatte eher mit einem lockeren Gespräch gerechnet, in dem vielleicht die eine oder andere Frage versteckt war, aber diese ausgefeilten, vorbereiteten und vorgelesenen Fragen überraschten mich doch ein wenig und brachten mich auch das eine oder andere Mal etwas aus der Fassung, als ich sie aufgrund der fremden Sprache nicht verstand und nur erahnen konnte, was gemeint war. Doch immer lächelnd und ohne mir etwas anmerken zu lassen, beantwortete ich auch die Fragen, die ich nicht verstand und erzählte Byron die Dinge, die er meiner Meinung nach hören wollte. Ich erklärte ihm, dass ich immer freundlich sei und schnell und genau arbeiten könne, ich erzählte, was ich in Konfliktsituationen mit Kunden oder Kollegen tun würde und wie ich mir meinen Vorgesetzten vorstellte, wie ich mir die Zusammenarbeit mit den Kollegen vorstellte und was ich mir überhaupt von dem Job versprach. Dass der Job eigentlich für zwei Monate vorgesehen war, ich aber eigentlich nur einen Monat lang arbeiten wollte und mein Visum ohnehin nicht mehr so lange gültig war, verschwieg ich gekonnt. Byron machte sich nickend Notizen zu meinen Antworten, immer mein freundliches Lächeln erwidernd. Und dann passierte es: wie peinlich, es klingelte in meiner Tasche. Wie dumm von mir! Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Mein Lächeln wurde breiter, seins wurde zu einem Grinsen.
„Tut mir leid,“ entschuldigte ich mich, „mein Handy, ich werde es ausschalten.“
Trotz des Zwischenfalls hatte ich ein gutes Gefühl. Wir verabschiedeten uns. Er werde sich in der nächsten Woche melden, sagte er dann noch. Das war eigentlich alles gut, doch es dauerte mir zu lange.
Wieder zu Hause rief ich die Nummer an, die auf meinem Handy erschienen war. Ich wusste nicht, wem die Nummer gehörte und war sehr gespannt, wer sich melden würde. Es war das Kino am Broadway in New Market. Man wollte mich zu einem Bewerbungsgespräch einladen, aber erst in der nächsten Woche. Etwas zu spät für meinen Geschmack, aber dennoch sagte ich dankbar zu. Schließlich wollte ich bei meiner Jobjagd keine Gelegenheit auslassen.
Die Jobsuche in Auckland geht weiter
Ich war unermüdlich und am nächsten Tag durchforstete ich wieder die Zeitung. Ich hatte mich entschieden, nicht nur Anzeigen aus der Gastronomie in Betracht zu ziehen, sondern auch andere. Ich schrieb mir eine Nummer auf, unter der sie Mitarbeiter für ein Callcenter suchten und eine andere Nummer, unter der sie Verkäufer benötigten. Ich rief die Callcenter-Nummer an und bereitete mich darauf vor, meine sympathischste Telefonstimme auszupacken. Es meldete sich nur ein Anrufbeantworter, wie dumm! Doch da musste man durch, vor allem dann, wenn man sich für einen Telefonjob bewarb. Ich versuchte, dem Anrufbeantworter dynamisch zu erklären, dass ich die Anzeige in der Zeitung gesehen und großes Interesse hätte und doch gerne einmal unter folgender Nummer zurückgerufen werden würde, danke, tschüss.
Nächste Nummer. Ein bisschen verkaufen in einem Geschäft konnte auch nicht schaden, wenn man Geld verdienen wollte. Ich rief an. Es meldete sich eine Frau, die freundlich und begeistert darüber klang, dass ich mich für die Anzeige interessierte. Sie erklärte mir kurz, wirklich kurz und sehr schnell, was in ihrer Firma gemacht wurde und fragte mich schließlich, ob ich gerne mal vorbeikommen würde, um mir alles anzusehen. Ich war begeistert – doch als ich eine Sekunde nachgedacht hatte, klingelte bei mir eine Alarmglocke.
„Moment, wie bitte, wie war das – was machen sie genau?“
„Wir verkaufen verschiedene Waren gezielt an Kunden in Auckland.“
Moment, Moment, Mooooment. Ganz hinten in meinem Kopf klingelte etwas: Markus und Claudia, er aus England, sie aus den USA, immer gut drauf gewesen die beiden und so lustig. Ich hatte sie damals in Blenheim im Grapevine Backpackers getroffen. Wie ich arbeiteten auch sie auf einem Weingut. Eines Abends erzählten wir uns von unseren bisherigen Joberfahrungen. Besonders viel konnte ich dazu nicht beitragen, da ich lediglich im Brown Kiwi geputzt hatte und das eigentlich ganz ok war. Aber die beiden hatten schon Einiges zu erzählen und dazu gehörte auch die Erfahrung, die sie in Auckland gemacht hatten. Es war ein Job im Verkauf. Sie sahen die Anzeige in der Zeitung, riefen an und waren total begeistert, dass sie am nächsten Tag schon anfangen konnten. Erwartungsvoll waren sie zu ihrem neuen Job gegangen und stellten dann entsetzt fest, dass es sich dabei um Klingelputzen handelte, oder wie man das so schön nennt. Sie waren Hookers und ihr Job bestand darin, in die Büros von furchtbar beschäftigten Menschen zu gehen, sie von der Arbeit abzuhalten und zu versuchen, ihnen etwas furchtbar Unnützes zu verkaufen. Dabei sollten sie die überall vorhandenen großen Schilder mit der Aufschrift „NO HOOKERS“ einfach ignorieren. Bezahlt wurden sie auf Provisionsbasis – nach Anzahl der Verkäufe. Nachdem sie eine Woche lang fast nichts verdient hatten, laufend beschimpft und mit sämtlichen Sicherheitsdiensten und der Polizei bedroht wurden, suchten sie sich einen anderen Job.
Und genau das stand mir nun auch bevor, obwohl ich den Job noch nicht einmal hatte, sondern nur mit der Dame am Telefon sprach.
„Meinen Sie, dass man zu den Leuten hingehen muss, um die Ware zu verkaufen, in Büros und so weiter?“ fragte ich interessiert.
„Ja, ja, genau,“ antwortete sie begeistert, „können Sie sich das vorstellen?“
„Nein.“
Plötzlich wurde die Dame furchtbar unfreundlich und beendete das Gespräch. Aber mir war das nur recht.
Probearbeiten im Callcenter
Am Nachmittag klingelte mein Telefon und George vom Callcenter war dran. Er wollte wissen, ob ich noch interessiert wäre und erklärte mir kurz, was seine Firma denn so tat.
„Im Grunde versuchen wir Geld für einen gemeinnützigen Zweck zu organisieren, indem wir unsere Kunden anrufen und versuchen, sie von einer Spende zu überzeugen.“
Zumindest klang der Mann am Telefon sehr professionell und ich hatte auch noch nichts Schlechtes über diesen Job gehört. Darum beschloss ich, es einfach einmal auszuprobieren. Wir vereinbarten einen Termin für ein Training.
Es handelte sich um einen Gebäudekomplex in Parnell, der aber mehr an ein Lagerhaus als an ein Bürogebäude erinnerte. Es waren noch einige andere Firmen darin untergebracht, wie mir die vielen Schilder auf dem Parkplatz verrieten. Dort traf ich auch eine ziemlich korpulente Frau, die sich ebenfalls etwas suchend umsah. Ich musterte sie und sie fragte mich, ob ich auch wegen des Jobs hier wäre. Ich bestätigte das und gemeinsam machten wir uns auf die Suche. Schließlich fanden wir den Eingang etwas versteckt hinter einem hohen Holztor. Wir liefen unsicher einen sehr langen, sehr weißen Gang entlang, bis wir endlich auf einen Menschen trafen.
„Wir suchen George“, sagte die dicke Frau. Wir warteten einen Moment in einem schäbigen kleinen Vorraum mit einem Kaffeeautomaten und einer Mikrowelle. Dann kam George, begrüßte uns und führte uns gleich in das „Büro“ – den Raum, in dem die ganzen Telefonisten saßen. Ich war schockiert. Das hatte ich mir nun wirklich nicht so vorgestellt. Ich hatte extra versucht, mich ein wenig seriös zu kleiden, da ich der Ansicht war, es handele sich um einen seriösen Job in einem seriösen Büro. Ich trat aber in einen kahlen Raum, der dringend eine Renovierung nötig gehabt hätte. An den Wänden standen schäbige alte Schreibtische. Auf jedem Schreibtisch stand ein altes, abgegriffenes Telefon und an einigen Schreibtischen saßen bereits ein paar Leute, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Da gab es den seriösen jungen Mann im seriösen Hemd, den Jungen im Schlabberlook, die unsichere junge Frau, die zu schüchtern war, um mit Menschen am Telefon zu sprechen, den mittellosen Studenten, die mütterliche Hausfrau, den Obdachlosen, es gab alles. Nun reihten sich eben noch die dicke Frau, die vielleicht sonst keinen Job kriegt, und die verzweifelte Backpackerin mit in die Runde ein.
George gab uns einige Blätter mit viel Text und einige Zettel mit Telefonnummern und Adressen. Er wies uns einen Platz zu und erklärte, dass wir erst einmal die Blätter durchlesen sollten. Sobald wir uns bereit fühlten, sollten wir einfach einmal ein paar Leute anrufen. Ich setzte mich auf den unbequemen Stuhl und musste mich erst einmal sammeln. Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Mir kam das alles so unwirklich vor. Ich konnte gar nicht glauben, dass es so etwas gab. Ich versuchte, mich in die Blätter zu vertiefen. Darin wurde erklärt, um welches gemeinnützige Projekt es sich handelte. Es war ein Fahrtraining, das an High Schools abgehalten werden sollte, um jungen Autofahrern einen sichereren Umgang mit dem Auto beizubringen. Das hörte sich soweit ganz gut an. Für die Details hatte ich keine Zeit mehr, schließlich war Zeit Geld. Denn auch hier galt: je mehr Spenden, desto mehr Geld für einen selber und das hieß, dass möglichst viele Menschen angerufen werden mussten. Auf einem weiteren Blatt wurde erklärt, wie ein Gespräch am Telefon verlaufen sollte und dass man sich unbedingt an den vorgegebenen Text halten sollte. Der Text ergab für mich keinen richtigen Sinn. Darum beobachtete ich die anderen Telefonisten und versuchte, ihren Gesprächen zuzuhören. Auch die dicke Frau, die mit mir eingetroffen war, schien schon zu telefonieren und auch bereits einige Erfolge verbucht zu haben. Am liebsten wollte ich einfach wieder gehen und diese Arbeit nicht tun. Aber dann beschloss ich, es wenigstens einmal zu versuchen. Ich nahm einen Zettel mit einer Telefonnummer von dem Stapel und wählte. Ich hatte eine Frau am Telefon und versuchte, ihr den vorgegebenen Text aufzusagen. Ich bekam jedoch lediglich ein Stottern heraus und die Reaktion war eine furchtbar unfreundliche Frau, die mich einfach abservierte.
Nur nicht aufgeben
Ok, als Nächstes ging ich zu der mütterlichen Hausfrau, um mir ein wenig Trost und ein paar wertvolle Tipps zu holen. Ich fragte sie, ob ich bei einem ihrer Anrufe zuhören dürfe, was sie mir dann auch erlaubte. Doch sie schien auch nicht erfolgreicher zu sein als ich. Auf dem Rückweg zu meinem Platz nahm ich mir noch einige Umschläge mit, nur für den Fall, dass doch jemand spenden wollte. Ich versuchte es wieder und wieder und wieder. Ich rief Dutzende von Menschen an, ich trug ihnen das wunderbare Projekt vor, inzwischen stark abweichend von dem Standardtext und deutlich selbstbewusster und ohne zu stottern. Die meisten Leute waren verärgert, weil sie gerade am Herd standen und Essen kochten oder auf eine Horde schreiender Kinder aufpassen mussten oder weil sie alt waren und die jungen Leute sowieso hassten und vor allem, wie Letztere Auto fuhren. Wenn ich versuchte zu erklären, dass genau dieser Fahrstil verbessert werden sollte, musste ich mir hilflos minutenlange Monologe über die Grässlichkeit der Jugendlichen anhören. Ich musste mir anhören, dass die Leute am anderen Ende der Leitung selbst kein Geld hatten, weil sie nur eine spärliche Rente bekamen oder dass sie erst wieder in zwei Wochen Gehalt bekamen und so lange trotzdem die Mäuler ihrer hungrigen Kinder stopfen mussten. Außerdem stand Weihnachten vor der Tür und die Kinder brauchten doch auch Geschenke, wenigstens etwas Kleines, da konnten sie sich eine Spende einfach nicht leisten, vielleicht im nächsten Jahr wieder. Ich war entmutigt. Ich hielt es kaum noch für möglich und als plötzlich eine ältere Dame sofort einwilligte, etwas zu spenden, war ich ganz sprachlos. Ich nahm einen der Umschläge, schrieb ihre Adresse darauf, den Betrag, den sie spenden wollte und meinen Namen. Ich steckte das Kärtchen mit der Telefonnummer hinein und fragte sie schließlich noch, an welchem Tag man das Geld denn abholen könnte. Ich legte den fertigen Umschlag zur Seite und telefonierte weiter. Ich musste mir weiter anhören, dass man nur Schlechtes über uns gehört habe, weil ja ohnehin nicht alle Spenden dem guten Zweck zukämen, sondern nur ein Teil und dass es eine Unverschämtheit sei, überhaupt anzurufen. Eine Frau allerdings war so begeistert von der Aktion, dass sie sofort einwilligte zu spenden. Sie erzählte mir, dass sie selber Kinder in dem Alter hätte und dass sie das ganz toll fände und ob es auch an der High School in ihrem Ort so etwas gäbe. Ups… Ehm…
„Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich kenne jetzt allerdings nicht den genauen Termin, da müssen Sie sich noch einmal an ihrer Schule erkundigen.“
Tja, danke für das Geld und tschüss. Nach vier Stunden hörte ich auf. Sagte George, dass ich am nächsten Tag wiederkommen würde und machte mich mit einem schmerzenden Kopf schleunigst auf den Heimweg. Am nächsten Tag ging ich natürlich nicht mehr hin. Dazu fehlte mir zum einen die Lust und zum anderen hatte ich zu viele innere Konflikte. Erstens hatten die Menschen recht: Die Spenden gingen wirklich nicht alle an das Projekt, denn schließlich wurden die Telefonisten davon bezahlt und sicher kassierte auch die Firma etwas. Zweitens war ich mir gar nicht sicher, ob es diese Projekte wirklich gab und ob überhaupt auch nur ein bisschen Geld irgendwohin ging oder ob die Firma einfach alles behielt. Ich jedenfalls wollte keinen gutherzigen, selbst unter finanziellen Schwierigkeiten leidenden Menschen noch mehr Geld abknöpfen.
Ein Job in einem der gößten Kinos Neuseelands
Schließlich beschloss ich, mich einfach auf die faule Haut zu legen, mich auszuruhen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und wie es so oft ist, regelt sich dann alles irgendwie von alleine.
Ich erhielt einen Anruf von Sky City Cinema. „Herzlichen Glückwunsch, Honey, du hast den Job.“
Ich war begeistert. Ich rief das andere Kino an und sagte das Bewerbungsgespräch ab, das brauchte ich nun nicht mehr.
Severine von der Brown-Kiwi-Rezeption kam auf mich zu, die Putz-Amerikanerin hatte keine Lust mehr.
„Wir haben einen Job für dich, Johanna!“
Fantastisch, nun hatte ich zwei Jobs, die sich sogar noch miteinander verbinden ließen. Endlich konnte ich wieder etwas Geld sparen für das große Finale meiner langen Reise.
Gespannt machte ich mich auf den Weg zum Einführungstag. In erster Linie ging es darum, ein paar formelle Dinge zu klären – etwa den Vertrag zu unterzeichnen und so weiter. Für mich war es aber gleichzeitig eine Möglichkeit, meine neuen Kollegen kennenzulernen und mich vielleicht auch schon mit dem einen oder anderen anzufreunden. Es war immer eine gute Sache, wenn man in einer großen Gruppe nicht so ganz alleine war.
Wir warteten alle im Foyer, bis Byron uns in den Konferenzraum führte. Ich war überrascht zu sehen, dass ich die einzige „Weiße“ in der Runde war. Alle anderen sahen asiatisch, indisch oder maori aus. Ich war die Exotin in der Gruppe. Eine ganz neue Erfahrung, die aber nicht unbedingt schlecht war.
Wir verteilten uns in dem Raum, der viel zu klein für uns alle war, und erhielten ein paar Zettel mit wichtigen Regeln, Hausordnungen und Verhaltensweisen. Ich war genervt zu sehen, dass es so viel zu beachten gab und hatte überhaupt keine Lust, mir alles durchzulesen. Als Byron uns dann auch noch aufforderte, jeweils einen Abschnitt laut vorzulesen, hatte ich noch viel weniger Lust. Vor einer großen Gruppe fremder Menschen etwas laut in einer anderen Sprache vorzulesen, das konnte ja nur peinlich werden. Erleichtert war ich jedoch, als die anderen den Anfang machten und mir einleuchtete, weshalb sie alle asiatisch oder indisch aussahen: Aus dem einfachen Grund, weil sie aus Asien und Indien kamen. Sie waren alle Studenten, hatten Ferien und wollten Geld verdienen und sie sprachen alle noch schlechter Englisch als ich. Wenigstens war es mir dann nicht mehr ganz so peinlich, als ich an der Reihe war mit Vorlesen. Wahrscheinlich waren die meisten überrascht zu hören, dass ich auch Ausländerin war, als sie meinen europäischen Akzent hörten, wo ich doch so weiß und neuseeländisch aussah. Aber wenigstens war mein Akzent ein willkommener Grund, auf mich zuzugehen und zu fragen, wo ich denn nun eigentlich herkam und was ich in Neuseeland machte. Da ich keine Studentin war, waren alle Studenten sehr interessiert zu hören, was man in diesem Land denn noch so alles tun konnte, außer zu studieren.
Die meisten von ihnen hatten wie ich zwei Jobs, zum Beispiel bei Burger King oder McDonalds. Die Löhne für solche Jobs in Neuseeland sind bescheiden und darum stürzte sich jeder in Arbeit, um einige Cents sparen zu können. Wir durchliefen ein dreitägiges Training in kleineren Gruppen. Als erstes wurde uns der Kinokomplex gezeigt, damit wir wenigstens eine Ahnung davon hatten, wo man die Leute, die einem nach dem Weg fragten hinzuschicken hatte. Die einzelnen Arbeitsbereiche wurden uns vorgeführt. Für mich war es nichts besonders Neues, da ich bereits in einem Kino gearbeitet hatte und das Gefühl bekam, dass alle Kinos auf der Welt irgendwie gleich waren. Popcorn stellte man auch irgendwie immer auf dieselbe Weise her, Karten wurden auch in Neuseeland abgerissen und auch hier wurden die Kinos nach den Vorstellungen gesäubert. Nichts Besonderes. Etwas anderes war es allerdings mit dem Kassensystem und genau mit diesem musste ich mich anfreunden. Karten verkaufen, Popcorn und alles, was eben dazugehört.
Eintrittskarten für Kinohungrige
Und die anderen lässigen Arbeiten wie Plätze zuweisen und derweil Filme gucken und Popcorn machen und dabei die Hälfte davon essen? Nicht für mich. Ich stand an der Kasse. Und es handelte sich bei diesem Kino um ein Filmtheater mit 16 Sälen. Das ermöglichte den zahlreichen, immer hungrigen Zuschauern, eine kontinuierliche Schlange vor meiner Kasse zu bilden. Das Ganze wurde durch das bevorstehende Weihnachtsfest nicht gerade entschärft, denn dieses trieb die einfallslosen Menschen dazu, Unmengen von Kinogutscheinen zu kaufen. Aber das war alles noch gar nichts im Vergleich zu dem Ereignis des Kinojahres schlechthin. Nicht zu vergessen: Wir befanden uns in Neuseeland, dem Geburtsland des Filmes „Der Herr der Ringe“. Der musste natürlich genau zu dieser ohnehin schon ungünstigen Zeit Premiere feiern. „The Lord of the Rings, The Return of the King”! Nein, die Leute wollten nicht nur Gutscheine kaufen, sie wollten auch Karten für den Film, der noch nicht einmal in den Kinos war. Vorverkauf hieß das magische Wort. Und auch an dieser Stelle muss ich sagen: Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn es hier ohne Komplikationen von der Bühne gegangen wäre. Ich meine, vielleicht möchte man ja gerne den „Herrn der Ringe“ an einem bestimmten Samstag sehen – aber bitte, an dem Samstag gibt es nicht nur eine einzige Vorstellung. Konnten die Leute denn wirklich so naiv sein anzunehmen, in dem größten Kino Neuseelands gäbe es täglich nur eine Vorstellung vom Film des Jahres? Nein, natürlich gab es 12, pro Stunde eine, das war doch völlig klar. Das stellte die Kunden allerdings meist vor ein riesiges Problem, denn mit so viel Auswahl waren sie total überfordert.
„Ehm… Entschuldigung, ich muss mal kurz meinen Freund anrufen und ihn fragen, wann er denn genau gehen möchte.“
„Aber natürlich, kein Problem.“ Immer freundlich bleiben und von der wachsenden Schlange hinter der telefonierenden Frau nur nicht beeindrucken lassen. Auch nicht von den genervten Kunden hinter der Telefonierenden, die sicher extrem unfreundlich sein würden, wenn sie denn endlich an der Reihe wären.
Der Freund wollte also gerne um 20:00 Uhr in den Film gehen. Da war er aber leider ausverkauft.
„Schatz, da ist der Film aber ausverkauft.“
Um 19:00 Uhr? Aber sicher, da sind aber nur noch Plätze in der ersten Reihe frei.
„Nein, das wollen wir dann auch nicht. Wie sieht es um 21:00 Uhr aus? Genauso? Und um 22:00 Uhr? Schatz, ist 23:00 Uhr zu spät? Ok, wir nehmen die um elf.“
Nur nichts anmerken lassen und immer lächeln. Der Drucker surrte, spuckte die Karten aus.
„Bitte, zwei Karten für Samstag um 23:00 Uhr in Kino 6. Die besten Plätze, die es noch gibt.“
„Ja aber… ich dachte, das ist auf der „Mega Screen“.“
Mega Screen, das war der Saal mit der großen Leinwand. Aber natürlich konnte der vier Stunden lange Film nicht jede Stunde auf der Mega-Leinwand anfangen, sondern nur jede vierte Vorstellung und das war eben die um acht und nicht die um elf, verdammt noch mal. Ja, ich konnte warten, ich hatte vollstes Verständnis dafür, dass solche schwerwiegenden Entscheidungen noch einmal mit dem Freund besprochen werden mussten. Und ich hatte auch Verständnis dafür, dass die Karten noch einmal umgetauscht werden mussten, weil man sich dann schließlich doch für eine Vorstellung am Nachmittag entschieden hatte. Was sollte ich auch machen, ich konnte ja nicht einfach unfreundlich werden und die Leuten zu einer Entscheidung zwingen. Für solche Aufgaben liefen viel zu viele Kollegen herum, die sich Supervisor oder Manager nannten. Das war diese Art von Leuten, die eine spezielle Uniform trugen, sodass jeder auch ihre Position erkennen konnte, und die sich furchtbar wichtig vorkamen. Aber eigentlich hatten sie nichts zu tun. Sie liefen nur in der Gegend herum und kamen sich eben besonders wichtig vor und hatten pausenlos das Bedürfnis, einem mitzuteilen, was man als Nächstes tun sollte. Eine gute Seite hatten sie natürlich auch. War ein Kunde wirklich aufgebracht und konnte sich nicht mehr in normaler Lautstärke artikulieren, packte ich mein süßestes Lächeln aus und sagte: „Einen Moment bitte, ich hole mal eben meinen Supervisor.“
Dann stand ich ganz entspannt daneben und hörte mir an, wie mein Vorgesetzter von den Kunden angeschrieen wurde. Dafür waren sie eben auch da, die Supervisors. Ja, ein Spaß war das, der ganz normale Kinowahnsinn eben. Auf beiden Seiten der Erde genau das gleiche Phänomen.
Der Abschied von Neuseeland und einem Jahr Work and Travel
Ein Monat reichte mir aber trotzdem. Ich kündigte. Es war keine besonders tragische Sache. Schließlich handelte es sich um einen großen Konzern, bei dem ich nur eine von vielen war, eine Mitarbeiterin, der man erst auf das Namensschild schielen musste, bevor man sie ansprechen konnte. Eine Kollegin, die die meisten noch nie getroffen hatten. Kein herber Verlust also.
Etwas anders sah es im Brown Kiwi aus. Eine verzweifelte Suche nach einem Nachfolger begann. Schließlich waren Andrew und Jess gefunden – zwei Engländer, die schon eine Weile im Hostel wohnten und verzweifelt Arbeit suchten. Der kleine Putzjob kam ihnen gerade recht. Aus Dankbarkeit und vielleicht auch, weil sie mich ein klein wenig vermissen würden, organisierten sie ein Abschieds-Barbecue. Was gab es Schöneres, als im Januar zu grillen, an einem lauen Sommerabend auf der Terrasse zu sitzen und sich Geschichten von der weiten Welt zu erzählen, von großen und kleinen Abenteuern und von dem einen oder anderen aufregenden Job, mit dem man sich unterwegs einmal ein paar Dollar dazuverdient hat? Es war ein Spaß und auf eine magische Weise, die ich mir im Vorfeld nie hätte träumen lassen, habe ich es doch irgendwie geschafft, mein Geld so zu strecken, dass es mir das ganze Jahr gereicht hat.
Der Bericht wurde 2005 in dem Buch „Schatzinsel Neuseeland“ vom traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag zum ersten Mal veröffentlicht.
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Sehr toller und spannender Erfahrungsbericht über den Kurier Job in Auckland. 🙂